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„Wir haben noch 30.000 offene Lehrstellen“

11Der Handwerkspräsident verspricht jedem Ausbildungswilligen in Deutschland eine Lehrstelle und beklagt sich über das schlechter werdende Bildungsniveau an Gymnasien.

Fast 60 Prozent aller Schüler machen Abitur und wollen studieren. Geht dem Handwerk der Nachwuchs aus?
Wollseifer: 
Es ist für unsere Handwerksbetriebe tatsächlich immer schwieriger, bildungsstarke junge Leute für eine Ausbildung zu gewinnen, und das ausgerechnet  in einer Zeit, in der die Ansprüche an die Mitarbeiter in den Betrieben immer höher werden, gerade auch im Handwerk.

Der Industrieländerorganisation OECD reichen noch nicht einmal diese Akademikerzahlen. Die wollen, dass 70 Prozent studieren …
Wollseifer
 … und unser duales Ausbildungssystem auf der Strecke bleibt.

Was wollen Sie tun?
Wollseifer: Erst einmal ist die OECD-Statistik verquer, weil sie nicht berücksichtigt, was an Qualifikation hinter dem Abschluss steht. Denn für viele Gesundheitsberufe – Optiker, Hörgeräteakustiker oder Orthopädietechniker – braucht es in anderen Ländern ein Studium, bei uns sind das Handwerksberufe. Und dann ist es meiner Meinung nach ein Irrweg der OECD zu glauben, dass mehr Akademiker eine besser funktionierende Wirtschaft bedeuten.

Muss man dann nicht ehrlich sein und sagen, dass viele einfach nicht aufs Gymnasium oder die Hochschule gehören?
Wollseifer
: Hm, das ist schon ein gesellschaftliches Problem. Sehen Sie, viele Eltern scheuen sich zu sagen, dass ihre Kinder auf die Hauptschule gehen. Dabei sind 40 Prozent unserer Azubis Hauptschüler – und für die gibt es gute Perspektiven im Handwerk.

Hätten Sie nicht lieber Realschüler und Abiturienten als Azubis?
Wollseifer
:  Grundsätzlich brauchen wir Beides: Junge Menschen mit einem höherem Abschluss, aber auch Hauptschüler. Und leider ist es so, dass auch Abiturienten heute nicht immer das halten, was man sich von ihnen verspricht: Das allgemeine Bildungsniveau ist an den Gymnasien in den letzten Jahren schon schlechter geworden.

Sind 500 Euro Azubi-Vergütung, wie sie manchmal gezahlt werden, nicht zu wenig?
Wollseifer:
 Außer in Deutschland zahlen nur die Handwerksbetriebe in Österreich, der Schweiz und Luxemburg ihren Azubis eine Vergütung. In anderen Ländern müssen die Lehrlinge für ihre Ausbildung aufkommen.

Was halten Sie von Martin Schulz?
Wollseifer:
 Ich habe ihn in einem angenehmen persönlichen Gespräch „unter Rheinländern“ vor allem als einen Politiker erlebt, der sehr genau zuhört, der die Anliegen seines Gesprächsgegenübers anhört.

Müssten Sie ihn nicht zum Helden des Handwerks ernennen? Er plant ein gigantisches Investitionsprogramm, von dem vor allem das Handwerk profitieren soll.
Wollseifer: 
Grundsätzlich ist es natürlich nicht schlecht zu investieren. Dafür braucht es Geld. Man muss dann schon sagen,  woher man das nimmt.

Höhere Steuern für Gutverdienende und Abbau der Überschüsse.
Wollseifer: 
 Entscheidend für unsere Betriebe ist bei allen derzeitigen politischen Vorschlägen, dass die  Belastung für das Handwerk auf keinen Fall steigt.

Wenn man die hohen Rechnungen Ihrer Branche sieht, scheinen viele Handwerksbetriebe die Belastungen auf die Kunden abzuwälzen?
Wollseifer: 
Die hohe Abgabenbelastung führt zu hohen Lohnkosten. Klar, dass sich das in den Rechnungen niederschlägt. Aber davon hat der einzelne Betrieb wenig. Die Margen liegen bei fünf bis zehn Prozent. Das ist angemessen. Deshalb ist uns so wichtig, dass die Belastung durch Sozialabgaben 40 Prozent auf keinen Fall überschreiten darf. Aber von einer solchen Festlegung lese ich weder im Wahlprogramm der Union noch der SPD.

In Sonntagsreden unterstreichen alle Parteien, wie wichtig das Handwerk für die Gesellschaft ist. Können Sie wirklich jedem ausbildungswilligen und -fähigen Bewerber eine Lehrstelle anbieten?
Wollseifer: 
Das kann ich uneingeschränkt bejahen. Mit derzeit noch rund 30.000 offenen Lehrstellen haben Jugendliche noch alle Chancen. Sie können es als Garantie betrachten, dass jeder, der die Voraussetzungen mitbringt, im Handwerk eine Lehrstelle erhält.

Auch für alle Gewerke?
Wollseifer: 
Auch für alle Gewerke.

Und auch an jedem Ort?
Wollseifer
: Das wiederum geht nicht. Die Bewerber müssen schon Flexibilität mitbringen. Nicht immer ist es im Wunschberuf und auch nicht immer am Wunschort möglich.

50 Kilometer Anfahrtsweg kann für einen Azubi schon lang und teuer sein. Finden Sie nicht?
Wollseifer:
 Das stimmt. Deshalb erwarte ich von der Politik, dass sie sich hier bewegt. Der Staat sollte etwa jungen Leuten, die einen weiten Weg für einen Ausbildungsplatz in Kauf nehmen, das Zugticket bezahlen. Das macht er bei Studenten mit dem Semesterticket auch, warum nicht bei Auszubildenden? Er sollte auch Internatsaufenthalte fördern, wenn die Auszubildenden mehrere Wochen Blockunterricht an einem anderen als ihrem Wohnort haben. Viele gerade wirtschaftsschwache Familien können sich das oft nicht leisten.

Als die große Flüchtlingswelle ins Land kam, hat die Wirtschaft gejubelt, dass sie nun die Facharbeiterlücke schließen könne. Sind Sie jetzt ernüchtert?
Wollseifer: 
Ich habe mich damals dieser Euphorie nicht angeschlossen. Um die zu uns geflohenen Menschen fit für die Wirtschaft zu machen, sind schon fünf bis sieben Jahre nötig. Die müssen zuerst die Sprache lernen, häufig Zusatzqualifikationen erwerben, bevor sie eine Ausbildung beginnen können. Das dauert eben.

Wie viele Flüchtlinge werden in handwerklichen Betrieben ausgebildet?
Wollseifer: 
Die Zahl der Ausbildungsverträge mit jungen Flüchtlingen lag 2016 bei rund 4.600, in NRW waren rund 700 Flüchtlinge in einer Ausbildung. Etliche weitere Tausend junge Menschen mit Bleibeperspektive befinden sich in Praktika, in Vorbereitungskursen für Ausbildungen oder Berufsorientierungsmaßnahmen. Insgesamt ist es also eine gute fünfstellige Zahl.

Das Interview führten Martin Kessler, Frank Vollmer und Stefan Weigel.
(Erschienen am 24. Juli 2017)