Duale Ausbildung erzeugt umfassendere Wohlfahrts- und Wachstumseffekte als angenommen
Gutachten: Handwerk integriert zweieinhalbmal mehr junge Menschen mit schlechten Startchancen als Industrie und Handel zusammen: Der Qualifizierung zum Handwerksmeister befähigt durch entsprechende Fortbildungs- und Prüfungsinhalte gleichermaßen zu selbstständiger Berufsausübung und zur Ausbildung von Lehrlingen. Ein neues Gutachten des Volkswirtschaftlichen Instituts für Mittelstand und Handwerk an der Universität Göttingen kommt jetzt zu dem Ergebnis, dass Kritiker – politische wie publizistische – eines qualifikationsgebundenen Gewerbezugangs im Handwerk die Wechselwirkungen zwischen beiden Ebenen des Kompetenzerwerbs bislang unterschätzt haben. Ohne Meisterpflicht drohten das handwerkliche Ausbildungswesen und damit die künftige Fachkräfteversorgung zusammenzubrechen – nicht im eigenen – bundesweit beschäftigungsstärksten – Wirtschaftssektor, sondern auch für andere Wirtschaftsbereiche wie Industrie, Handel, Dienstleistungen und die Öffentliche Verwaltung. Die Göttinger Studie im Auftrag der Handwerkskammer Düsseldorf belegt, dass das Meistersystem mit umfassendem Befähigungsnachweis für die Funktionsfähigkeit nicht nur des handwerklichen Ausbildungsmarktes, sondern des dualen Systems der beruflichen Bildung in Deutschland insgesamt unentbehrlich ist. „Damit ist der EU-Kommission, die dem meistergebundenen Gewerbezugang wettbewerbsbeschränkende und beschäftigungshemmende Wirkungen unterstellt und einzelne Handwerksberufe derzeit auf zulassungshemmende Eigenschaften untersucht, die argumentative Grundlage entzogen“, kommentierte der Präsident der Handwerkskammer Düsseldorf, die die Studie beauftragt hatte, am Donnerstag vor Journalisten deren Kernaussage.
Das Autorenteam (federführend: Dr. Klaus Müller) arbeitete zwei volkswirtschaftliche Hauptvorzüge der dualen Berufsausbildung heraus: Zum einen den Faktor der Integration immer neuer Jahrgänge an Schulabgängern ins Erwerbsleben. Dies minimiere die Jugendarbeitslosigkeit und spare der Volkswirtschaft soziale Folgekosten. Zum anderen seien die dual ausgebildeten Fachkräftegruppen für die Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft von exponierter Bedeutung.
Das Handwerk sei mit einem Anteil von 37,5 % aller registrierten Ausbilder und knapp 30 Prozent aller dual Ausgebildeten nicht nur der mit Abstand stärkste ausbildende Wirtschaftsbereich, der im Übrigen traditionell als „Fachkräfte-Zubringer“ für die übrige Wirtschaft tätig sei. Nur 38 % der ursprünglich im Handwerk Ausgebildeten waren – so die Untersuchung – im Jahr 2012 auch in diesem Sektor tätig.
Das Handwerk integriere darüber hinaus gut zweieinhalbmal mehr junge Menschen mit schlechten Startchancen als Industrie und Handel zusammengenommen; annähernd jeder fünfte Azubi im Blaumann (18%) ist ein Jugendlicher aus geförderten Übergangsmaßnahmen. „Vor dem Hintergrund der Demografie und des Megatrends zur Hochschulausbildung gewinnen diese Zielgruppen für die Nachwuchsgewinnung künftig sogar noch an Gewicht“, betonte Ehlert.
Die Meisterqualifikation sichere nach den Erkenntnissen der Bildungsforscher den “Großteil der handwerklichen Ausbildungsleistung“ – 84% der Ausbilder verfügten über die Qualifikation; ihr komme in dem beschriebenen Wettbewerbs- und Wohlfahrtskontext deshalb die „Ankerfunktion“ zu, so die Gutachter. Neben selbstständigen Handwerkern engagierten sich übrigens auch zahlreiche angestellte Meister in der Lehrlingsausbildung und als Prüfer: Annähernd 6 von 10 Gesellen- und Meister-Prüfer sind angestellte Meister, so die Ausarbeitung. Ermöglicht werde diese breite Streuung der Ausbildungsfunktion im Handwerk mittels der curricularen Einheit von Unternehmerschulung und Berufspädagogik in der Meisterfortbildung. Unternehmen wie aufstiegswillige Arbeitnehmer profitierten dabei im Übrigen davon, dass sie den Erwerb der Ausbilder-Qualifikation nicht gesondert auf der Kostenseite verbuchen müssten. Anders bei einer freiwilligen Meisterprüfung. Würde die Berechtigung zur selbstständigen Berufsausübung vom Erwerb des Großen Befähigungsnachweis abgekoppelt, würde der stärkste Anreiz für die Aufstiegsfortbildung zum Meister entfallen – mit gravierenden Auswirkungen auf die handwerklichen Ausbildungsbereiche, wie die negative Entwicklung bei den Meisterabschlüssen nach der Novellierung der Handwerksordnung zum 1.1.2004 belege. Die Zahl der Meisterprüfungen in den deregulierten Berufen sank seither auf gut 40 Prozent des Niveaus von 2003.
Nur 18 Prozent der Neugründer in den zulassungsfreien Handwerken sind Meister und verfügen damit über die Befähigung bzw. Berechtigung zur Lehrlingsausbildung. 70 Prozent der Ausbildungsleistung in diesen dequalifizierten Branchen stammt von älteren, von qualifizierten Inhabern geführten Betrieben. „Die Lehrlingszahlen in dem betroffenen Segment haben sich jedoch insgesamt seither halbiert“, ergänzte Ehlert den Befund. – „Nur der Erwerb des Großen Befähigungsnachweises in der Kombination von unternehmerischer, fachlicher und berufspädagogischer Qualifizierung sichert die Ausbildungsleistung des Handwerks und die Fachkräfteversorgung für die Wirtschaft“, resümierte Kammerpräsident Ehlert die vorgelegten Analysen. „Eine vereinfachte Deregulierungslogik, die Qualifikation als Wachstumshemmnis beschreibt, ist selbst das größte Wachstumshemmnis.“